Auf den ersten Blick erscheint die kleine Glasbläserstadt Lauscha im Thüringer Wald nicht besonders attraktiv für Kinder: Es gibt immer weniger und immer ältere Einwohner, leerstehende Häuser, fehlende Mittel für Investitionen und der Weg aus dem abgelegenen Tal zu Freizeitangeboten in größeren Städten ist weit. Doch wer erfährt, was die Kita-Kinder in Lauscha erleben, möchte genau dort aufwachsen.
Es braucht ein ganzes Dorf…
Das liegt vor allem an der einzigen Kindertageseinrichtung in dem 3.800-Einwohner-Städchen, dem AWO Kindergarten „Hüttengeister“ und seinen Partner:innen. Denn in Lauscha wird das Sprichwort, nach dem es ein ganzes Dorf braucht, um ein Kind aufzuziehen, im positiven Sinne gelebt. Von lokalen Vereinen und Institutionen über Handwerkende, Gewerbetreibende und Kunstschaffende bis hin zu Kita-Fachkräften und Eltern – alle bringen sich in die Kita-Gemeinschaft ein und lassen die Kinder die Traditionen und Vorzüge ihres Heimatortes erleben. „Unsere Einrichtung arbeitet nach der Reggio-Pädagogik“, erzählt die Leiterin der „Hüttengeister“, Brit Wagner. „Nach diesem Konzept ist die die Bildung und Erziehung der Kinder eine gesellschaftliche Aufgabe. So ermutigen wir alle Ortsansässigen, mitzuwirken und uns zu unterstützen.“
Dank der Lauschaer Bürger und Vereine erhalten die Kita-Kinder diverse Nachmittagsangebote der besonderen Art – fast alle haben einen Bezug zur Region: Darunter Besuche in der Glasbläserschule, Ski-Kurse vom Wintersportverein, Tanzstunden und -auftritte mit dem Faschingsverein, Erste-Hilfe-Kurse der Bergwacht, Töpferkurse örtlicher Künstler, Besuche eines Imkers, Koch- und Backkurse einer Köchin oder ein von einer Fachkraft organisiertes Theaterprojekt samt Auftritten im Seniorenheim. Um das sind nur einige Beispiele.
Ausgehend von den Lebensbedingungen der Kinder und Familien können Einrichtungen der frühen Bildung oder Kindertagesbetreuung ihren Sozialraum als Ressource sehen und Menschen sowie Einrichtungen aus dem lokalen Umfeld in die pädagogische Arbeit einbeziehen. Diese konzeptionelle Ausrichtung wird Sozialraumorientierung genannt und ist eine der vier Qualitätsdimensionen des Deutschen Kita-Preises.
Bedarfe erkannt und Unterstützung erfragt
Die lokale Initiative rund um die Lauschaer Kita entstand schon kurz nach deren Eröffnung vor über 20 Jahren, als das Team um Brit Wagner erkannte, dass der tatsächliche Bedarf der Familien weit über die Vormittagsaktivitäten der Einrichtung hinausging: „Viele Kinder von Schichtarbeitenden waren bis 17 Uhr bei uns oder wurden sogar erst nachmittags gebracht. Ihnen wollten wir ein ebenso vielseitiges Spiel- und Lernangebot machen“, erinnert sich Brit Wagner. So startete das Team schon im ersten Kita-Jahr einen Aufruf: Wer kann uns unterstützen? Und wie es in einem kleinen Städtchen so ist, verbreitete sich die Anfrage „per Mundpropaganda“ in Windeseile überall.
Viele Vereine und Akteurinnen meldeten sich mit eigenen Ideen. „Der Zuspruch in der Kommune war und ist riesig“, schwärmt die Kita-Leiterin. „Manche Engagierte mussten wir regelrecht ausbremsen oder an die Schule weitervermitteln, weil die Angebote eher für größere Kinder geeignet waren.“ Abgesehen von den letzten beiden Corona-Jahren können die „Hüttengeister“ jedes Jahr zum „Tag der offenen Tür“ im September zahlreiche Listen mit Nachmittagsangeboten aushängen, in welche sich die Kita-Kinder mithilfe ihrer Eltern eintragen.
Niedrigschwellige Angebote gemeinsam organisiert
Die Projekte sind offen für alle Kita-Kinder über drei Jahren, sowohl Kursgebühren und Eintrittsgelder als auch Ausrüstung, Materialien und Fahrtkosten werden von den Akteur:innen übernommen. „Somit können wirklich alle Kinder teilnehmen und die Familien, unabhängig von ihrer Herkunft oder ihrem materiellen Status, werden entlastet und gleichzeitig gut in unser Gemeinwesen integriert“, betont Brit Wagner. Viele Kinder würden über die Angebote erste Interessen an bestimmten Sportarten oder anderen Hobbies entwickeln, die Eltern wiederum kämen bei Sportveranstaltungen, Festen oder Auftritten ungezwungen miteinander in Kontakt. „Viele engagieren sich auch als Aushilfstrainer:in oder Begleitperson, andere bringen sich mit ihren Berufen, Haustieren, Ideen oder kulturellen Bräuchen in den Kita-Alltag ein“, führt die Kita-Leiterin aus.
Andersherum wissen aber auch die Familien das Engagement der Einrichtung zu schätzen: So waren es die Eltern, welche die Initiative rund um die „Hüttengeister“ über ein Online-Formular für den Deutschen Kita-Preis 2022 vorgeschlagen hatten. Daraufhin bewarb sich das lokale Bündnis und schaffte es sogar unter die 15 Nominierten in der Kategorie „Lokales Bündnis für frühe Bildung”.
Der Name der Kindertagesstätte hat einen historischen Hintergrund: Der Gründung der ersten Glashütte in Lauscha im Jahre 1597. Auch im Thüringer Wald erzählte man sich Geschichten und Sagen rund um Hüttengeister oder andere Wesen, welche unter Tage oder im Gebirge zu finden seien. Die Kita nutzt diesen besonderen Namen nicht nur, sondern führt die Kinder auch spielerisch an wichtige Traditionen und Werte des Städtchens heran, darunter die Glasindustrie, das Vereinsleben und das Bewusstsein für die Natur.
Angebote fördern die kindliche Entwicklung
Die Tatsache, dass es die Initiative rund um die „Hüttengeister“ so weit unter die Nominierten des Deutschen Kita-Preises geschafft hatte, zeugt davon, dass die Angebote die Entwicklung der Kinder im Kindergartenalter auf unterschiedliche Art fördern: Die wöchentlichen Skikurse beispielsweise sind an ein Bildungsprogramm für gesunde Ernährung, Bewegung und Naturbewusstsein gekoppelt, die Besuche in der Glasbläserei führen die Jüngsten an die örtliche Handwerkstradition heran und machen sie mit den historischen und geografischen Besonderheiten ihrer Heimat vertraut. Die konsequente Ausrichtung der „Hüttengeister“ an den kindlichen Interessen sowie die Tatsache, dass Jung und Alt den Kita-Alltag gemeinsam gestalten, ermutigen schon die Jüngsten, selbstbestimmt zu agieren und demokratische Prozesse mitzugestalten.
Neue Projekte in den Startlöchern
Nachdem die meisten Kita-Angebote seit Beginn der Corona-Pandemie auf Eis lagen, gehen die „Hüttengeister“ nun mit neuem Schwung ins Frühjahr: Brit Wagner freut sich, dass die Vorschulkinder vor Kurzem bereits eine Wintersportwoche erleben durften. In den Startlöchern steht außerdem ein neues Musikprojekt eines Vaters, der den Kindern die alte Orgel in der Kirche näherbringen möchte. Nach und nach nehmen auch die anderen Akteur:innen in Lauscha ihre Aktivitäten mit den Kindern wieder auf. Und wenn alles gut läuft, findet im Sommer wieder die beliebte „Kinderkirmes“ statt, die der Kirmesverein einmal im Jahr nur für die „Hüttengeister“ veranstaltet: Einen Tag lang alle Fahrgeschäfte, Hüpfburg, Schminkangebote und Kinderdisco kostenfrei nutzen, mitsamt kulinarischer Verpflegung und „Bonbonregen“.
Schon jetzt steht fest: Der AWO Kindergarten „Hüttengeister“ ist nicht nur an diesem besonderen Tag ein Magnet für Jung und Alt. Dank der vielen Angebote und Partner:innen hat sich die Einrichtung über viele Jahre hinweg zu einem wichtigen Dreh- und Angelpunkt in Lauscha entwickelt. Die Familien profitieren nicht nur von den Aktivitäten direkt vor Ort, sondern lernen überdies die Angebote, Bräuche und Menschen ihrer Region zu wertschätzen. Und die Jüngsten erfahren schon früh, dass Lauscha – so abgelegen der Ort auch sein mag – ein attraktiver Wohnort ist.
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