sechzehn + drei =

neunzehn − zehn =

Ein Themenschwerpunkt unseres Elternportals widmet sich Diversität und Inklusion im Kita-Alter. In diesem Interview schildert Andrea Milewski, Leiterin der WABE Kindertagesstätte in Lauenburg an der Elbe, wie Inklusion im Kita-Alltag konkret umgesetzt wird. Die Einrichtung aus Schleswig-Holstein war beim Deutschen Kita-Preis 2020 unter den Zweitplatzierten und ermöglicht durch eine offene Arbeitsweise, dass sich jedes Kind selbstbestimmt und im eigenen Tempo entwickeln kann.   

Rund um Kita: Was bedeutet Inklusion für Sie und Ihre Kita?

Milewski: Wir sehen es als „normal“ an, verschieden zu sein. Ein inklusives Miteinander bedeutet, von den Verschiedenheiten und somit auch von den Stärken und Einzigartigkeiten der Kinder zu leben und zu profitieren. Wir sind offen für ihre Ideen, ohne diese zu bewerten. Wir haben also kein „besser“ und „schlechter“ oder kein „richtig“ und „falsch“ im Kopf. Alle Kinder und Erwachsene gehören für uns ganz natürlich dazu. Egal wie sie aussehen, welche Sprache sie sprechen, ob sie eine Behinderung haben oder nicht. Bei uns spielen und lernen alle selbstverständlich gemeinsam.

Andrea Milewski (Foto: WABE Kindertagesstätte)

Wie wird Ihre inklusive Arbeitsweise im Kita-Alltag sichtbar?

Unsere Willkommenskultur begegnet den Familien bereits beim Betreten der Kita: Hier heißen wir sie in verschiedenen Muttersprachen herzlich willkommen. Dazu haben wir ein Fenster im Eingangsbereich mit entsprechenden Schriftzügen gestaltet. Bei Aufnahme- oder Elterngesprächen mit Familien, die die deutsche Sprache nicht beherrschen, arbeiten wir mit Dolmetschern zusammen. So möchten wir dazu beitragen, dass sich alle Familien bei uns gut aufgehoben fühlen. Außerdem ist es selbstverständlich, die individuellen Bedürfnisse der Kinder auch beim Essen zu berücksichtigen: Die Mahlzeiten werden interkulturell abgestimmt und allergiegerecht zubereitet. So können alle Kinder gemeinsam essen und müssen nichts von zu Hause mitbringen.

„Kinder möchten ihre eigene Lebensgeschichte schreiben und nicht eine andere übernehmen.“

Wie können sehr unterschiedliche Kinder individuell gefördert werden?

Jeder Mensch hat eine ganz individuelle Lebensgeschichte. Auch die Kinder möchten ihre eigene Geschichte erst selbst schreiben, ohne eine andere zu übernehmen. Deshalb unterstützen wir sie dabei, ihre eigene Welt zu entdecken und gestalten die Rahmenbedingungen so, dass alle entsprechend ihrer Fähigkeiten optimal teilhaben können. Um jedes Kind individuell und bestmöglich zu fördern, arbeiten wir eng mit einem Netzwerk aus Therapeutinnen und Therapeuten zusammen. Außerdem engagieren wir uns in der Begabtenförderung.

Eine bunte Kita – alle spielen und lernen gemeinsam, unabhängig von ihren Fähigkeiten (Foto: DKJS / J. Erlenmeyer, N. Götz).

Wann ist ein Kita-Kind (per Definition) ein sogenanntes Inklusionskind?

Ein Inklusionskind ist ein Kind mit Behinderung, das mit anderen Kindern ohne Behinderung gemeinsam in den Kindergarten oder die Schule geht. In der Regel werden Kinder mit besonderem Förderbedarf über den Amtsarzt begutachtet und die entsprechenden Hilfebedarfe identifiziert. In diesem Fall kommt es zu einem offiziellen Integrationsstatus, welcher in Kindertagesstätten einen regelmäßigen interdisziplinären Austausch sowie einen individuellen Förder- und Therapieplan erforderlich macht.

„Es geht nicht um die Kompetenz eines Kindes, sondern um dessen Wohlergehen.“

Wie fördert man ein Integrationskind, ohne dass es das Gefühl hat, gesondert behandelt zu werden?

Wir legen in unserer Kita großen Wert darauf, jedes Kind als Persönlichkeit mit individuellen Voraussetzungen und Bedürfnissen anzusehen, statt es in Schubladen wie „förderbedürftig oder nicht“ zu stecken. Unser pädagogisches Konzept der „Offenen Pädagogik der Achtsamkeit“ ist eine gute Grundlage dafür. Wir stellen die Selbstbestimmungs- und Beteiligungsrechte aller Kinder in den Mittelpunkt. Die Fachkräfte fungieren als Lernbegleitende und Impulsgebende: Sie beobachten und unterstützen alle Kinder gleichermaßen bei der Umsetzung ihrer eigenen Ideen. So können diese in unseren Werkstätten und Funktionsräumen eigenständig entdecken, forschen und gestalten – jedes in seinem eigenen Tempo.

Eine gezielte Förderung von Inklusionskindern ist zwar grundsätzlich positiv, wird jedoch leider noch zu oft als kompensatorische Maßnahme verstanden. Nämlich als Weg, um die Leistungsfähigkeit eines Kindes zu erhöhen – bemessen an einem Ideal von Erwachsenen. Unser Maßstab ist nicht vorrangig die Kompetenz eines Kindes, sondern vor allem dessen Wohlergehen.

Diversität im Fokus

Respekt, Toleranz und Vielfalt in der Kita und in den Familien – alle Beiträge  unseres Themenschwerpunktes finden Interessierte hier.

Was, wenn manche Kinder dennoch mehr Unterstützung brauchen als andere?  

Bei der offenen Arbeit orientieren wir uns ohnehin an jedem einzelnen Kind und seinen Bedürfnissen. Wir beobachten alle Mädchen und Jungen genau, um eventuelle Hürden im Kita-Alltag zu erkennen. Gemeinsam suchen wir dann nach Lösungen, um diese zu überwinden: Beispielsweise hatte ein körperlich beeinträchtigtes Mädchen Schwierigkeiten, ihre Mahlzeit im Kinderrestaurant selbständig einzunehmen. Die Fachkräfte erkannten, dass der Tisch zu glatt war und der Teller häufig herunterfiel. Auch der Stuhl schien unpassend. Daraufhin bauten wir den Sitzplatz entsprechend der körperlichen Bedürfnisse des Kindes um, so dass es bequemer sitzen konnte. Unter ihren Teller bekam sie eine Antirutschmatte. Dadurch konnte sie nach ihren Möglichkeiten selbstständig essen und doch bei den anderen Kindern sitzen. Hier wurde mit einfachen Mitteln viel bewirkt.

Auch Kinder, die (noch) nicht sprechen können, können wir gut in das Alltagsgeschehen einbeziehen, denn wir nutzen die Kommunikation mit Gebärdensymbolen. Dafür haben wir in der Krippe Pädagoginnen und Pädagogen, die lautsprachunterstützende Gebärden beherrschen und mit den Kindern einstudieren.

Die Fachkräfte sind Lernbegleitende und Impulsgebende: Sie unterstützen die Kinder bei der Umsetzung ihrer eigenen Ideen (Foto: DKJS / J. Erlenmeyer, N. Götz).

Wie gehen Sie auf die unterschiedlichen Lebensbedingungen der Familien ein? 

Ein Beispiel, wie wir die sozialen Lebensumstände der Familien einbeziehen, sind unsere flexiblen Öffnungszeiten. Diese passen wir, wenn nötig, im wöchentlichen Rhythmus an die Bedürfnisse der Familien an. Wichtig ist dies etwa für Eltern, die im Schichtsystem arbeiten und denen vielleicht nur der gemeinsame Vormittag mit den Kindern bleibt. Sie haben mehr Familienzeit, weil wir keine festen Bringzeiten vorgeben.

Ein weiteres Beispiel: Ein Junge mit Fluchthintergrund, der unsere Sprache noch nicht spricht, tat sich schwer bei der Eingewöhnung. Doch zusammen mit dem Vater, der ihn immer begleitete, gelang es uns nach einer längeren Eingewöhnungsphase, dass der Junge sich nun wohl und zunehmend vertraut fühlt. Er orientiert sich an den visuellen Gegebenheiten in der Kita und es gelingt ihm immer besser, sich bei uns zurechtzufinden und Kontakt zu den Kindern und pädagogischen Fachkräften aufzunehmen.

Verschiedene Lebensumstände, Kulturen, Herausforderungen: Jedes Kind bekommt seine Chance

Gibt es auch herausfordernde Momente?

Einmal nahmen wir ein verhaltensauffälliges Kind auf, das zuvor in verschiedenen Einrichtungen als „nicht tragbar“ eingestuft und dem immer wieder gekündigt wurde. Unser Team überlegte gemeinsam mit der Familie, Hilfeplanern, Jugendamt und dem Kind, wie wir die Aufnahme dennoch schaffen könnten: Schließlich unterstützte ein Bundesfreiwilligendienstler das Kind und seine Bezugserzieherin dabei, sich bei uns einzugewöhnen und sein impulsives Verhalten besser zu regulieren. Hilfreich dabei war sicherlich auch unsere offene Pädagogik: Dem Kind standen alle Räumlichkeiten offen und es konnte sich seinen besonderen Bedürfnissen entsprechend entfalten. So wurde es nicht nur erfolgreich betreut, sondern fühlte sich auch gehört und in seinen Emotionen wahr und ernst genommen. Leider konnten wir dessen Entwicklung nicht weiterverfolgen, da die Familie in ihren Heimatort zurückzog. Beim Abschied signalisierte uns das Kind jedoch, wie wohl es sich gefühlt hatte und wie sehr es die Kita vermissen wird. So werden aus den Herausforderung sehr berührende Momente.


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